Für die meisten Grimmaer ist der Stadtwald eine fremde Welt oberhalb der Bahndamm-Promenade. Der Zugang von der Steinbrücke her scheidet in „Stadtwaldtaugliche“ und Ungenierte – in die, die keine festen, höhentauglichen Schuhe anhaben. Wer die steinreiche Hohle überwand, hat den ersten Grimmaerer Panoramablick von der Stelle an der bis in die 1950er Jahre der „Pilz“ stand, ein strohgedeckter Ruheplatz. Der Blick geht auf die 2019 fertig gewordene Hochwasserschutzanlage, die vorläufig noch ein bisschen kahl dasteht, aber die ehemalige Handschuhfabrik einschließt. Was es zu sehen gibt, ist nicht nur eine sächsische Einmaligkeit: eine ungestörte spätmittelalterliche Stadt mit einer vollkommenen Stadtmauer auf einen freien Grasstreifen zur Mulde hin. Der breite Grasstreifen schreit nach Nutzungen, am besten wenigstens mit einem großen Sommerfest, wenn auch schon gegen Abend die Sonne schnell verschwindet. Warum sollten nicht ein paar kleine Gruppen auch ohne große Technik auftreten? Alle hoffen, dass Papierkörbe benutzt werden! Vom Pilz aus sucht man sich seinen Weg und kommt zum „Köhler-Denkmal“. Die dankbaren Seminaristen setzten dem langjährigen, verdienstvollen, väterlichen Lehrer den Denkstein. Das Grimmaer Seminar war das erste in einer kleinen Stadt. Über Generationen wurden hier leidenschaftliche Lehrer ausgebildet, die eine breite Volksbildung schufen, die es ermöglichten, dass Sachsen eine führende Industriemacht im Deutschen Reich wurde. Das Seminar bezog symbolisch den „Kasten“, einen ehemaligen Stadt-Adelspalast, der bis ins frühe 20. Jahrhundert ausreichte, allseitig ausgebildete Volksschullehrer auch zu bilden und zu erziehen. Der Bau ist der zweite architektonische Höhepunkt nach dem wettinischen Schloss, mit dem die Geschichte der Stadt begann. Bis dicht an die Abbruchkante reichen seit knapp 200 Jahren die Rotbuchen, die anstelle des „Knieholzes“ wachsen. Das war ein Stück Land, auf das die Rinder- und Schweinehirten der Ober- und der Unterstadt zur Weide trieben – die Tiere verbissen alles Grün – es kam kein Baum hoch. Als die Bevölkerung wuchs, musste die Landwirtschaft reformiert werden, wozu auch die Stallung der Tiere gehörte. Und so wuchs durch die natürliche Verjüngung der Laubmischwald hoch, den wir kennen.
Ab und zu wird mal ein starker Baum geschlagen, der ungesund ist oder in seiner Standfestigkeit gefährdet ist. Wo die Sonne auf die Erde scheint, wird sofort alles grün. Maiglöckchen sind erkennbar – der Wachtelweizen nicht. Es gibt die heimischen „Exoten“, Mai- und Marienkäfer. Bis vor wenigen Jahren war der Wald voller Singvögel, die bis Pfingsten zu hören waren. Seit uns keine Mücken mehr plagen, fehlen die Vögel. Hier oben gibt es viele und die Frage: Was ist das eigentlich für ein Wald? Die gepflasterten Stufen verweisen auf einen „Parkwald“. Es könnte auch ein Erholungswald gewesen sein – eine vergessene Rodelbahn erinnert daran, dass er von den Grimmaern benutzt wurde. Der Status „Landschaftsschutzgebiet“ hat nicht einmal symbolische Bedeutung, denn nicht einmal „Naturschutzgebiete“ müssen respektiert werden. Den großen Klotz des St. Augustin kann keiner übersehen. Der Stararchitekt, der ihn plante, scheint einen großen „Anker-Steinbaukasten“ vor Augen gehabt zu haben, aber keinen repräsentativen, historischen sächsischen Bau. Dem Zwecke eines repräsentativen – „großstädtischen“ – Baus für eine zu bildende Elite schadet es nicht. Die Klosterkirche ist unser historischer Renommierbau. Sie hat eine besondere zeitgeschichtliche Bedeutung. Im Sommer 1989 fiel endgültig ihr einzigartiger Dachstuhl in das Kirchenschiff. Im nächsten Jahr begannen die Konstrukteure des VEB MAG Grimma-Leipzig ein Stahlbinderdach zu projektieren, das sehr zügig aufgesetzt wurde und vielen Mut machte, während eine allgemeine Kopflosigkeit herrschte. Für uns war das das erste positive Zeichen! Danach wurde das Dach sehr schnell gedeckt – auch etwas, das man sich bis dahin schlecht vorstellen konnte. Die neuen Verhältnisse begannen hier mit diesem Paukenschlag. Etwas weiter flussaufwärts fällt der große Giebel auf mit der Aufschrift „Stolle“, der Leipziger Literat und Journalist war hierhergekommen, weil man es ihm dort übelnahm, dass er den Rat kritisierte. In der sehr lesfreudigen Zeit verfasste er historische Romane, die heute keiner mehr lesen würde – bis auf seine „Deutschen Pickwickier“. Liebevoll schildert er darin Grimma um 1840. Mit seinem Freund Keil saß er in seiner „Gartenlaube“ und sann nach einem Namen für das Journal, das die ganzen Familien lesen sollten. Die Idee kam dort zustande und das ist in Grimma zu verkünden, bis das Gegenteil bewiesen wird. Die inhaltlich anspruchsvolle, vielseitige Zeitschrift erschien bis in die 1940er Jahre, die „Wochenpost“ hatte die bewährte Idee wiederaufgenommen.
Im Stadtwald, dem Stolle-Haus gegenüber, setzte der Verschönerungsverein einen Sandsteinobelisken, den der Geschichts- und Altertumsverein 2019 restaurieren ließ. „Das grüne Kleinod Grimmas“ – den Wallgraben, findet man leicht – die grüne Lunge der Stadt. Dahinter oder darüber geht es nach „Neu Grimma“, denn nur so konnte die Stadt wachsen. Verwachsene Stufen führen hinab zum Gesundbrunnen. Die Vermögenden der Stadt, voran der „Kommerzienrat“ Schröder, hatten dem Verschönerungsverein Geld gespendet, das in die viele gärtnerische Gestaltung floss – bis im 1. Weltkrieg die „alte Welt“ unterging. Von dem Platz gibt es noch einmal einen schönen Blick auf die Altstadt. Der Ausblick war gewählt worden für den Pavillon, der schließlich Randalierern zum Opfer fiel. Es führen zwei Wege zur Hängebrücke. Von da gibt es jetzt für die, die nicht gleich durch die Stadt gehen wollen, zwei Möglichkeiten: Die „Bahndammpromenade“ oder ab Mühltor vor der Mauer entlang den schönen neuen Weg, Grimmas jüngste bauliche Kostbarkeit.
In den Städten der fortgeschrittenen Länder legte man im vorletzten Jahrhundert notwendige Stadtparks an. Sie dienen der Luftzirkulation, dem Wohlbefinden und der Erholung, in den schnell erwachenden, dicht bebauten Städten. Man hatte begründete Ängste vor ständig drohenden, verschiedenen Seuchen und sorgte für eine funktionierende Kanalisation, die Bauordnungen schrieben genau vor, wie gebaut werden musste, und setzte die Ordnungen auch durch. Stadtparks, Schrebergärten und Sportvereine wurden dazu geschaffen, den Stadtmenschen die nötige Bewegung an der Luft zu verschaffen. Ein Nachtrag: Immer noch und immer mal wieder wird nach dem „Norkusdenkmal“ gefragt: Herbert Norkus war ein Berliner Junge, der in der frühen NS-Zeit in einem Handgemenge ermordet wurde. Er wurde zum Märtyrer hochstilisiert. Im Stadtwald, oberhalb des Eisenbahntunnels hatte man eine Felszacke dazu ausersehen, ein unmaßstäblich großes Blechschwert als Norkus-Denkmal tragen zu müssen. Dort wurden mit den Jungen und Mädchen der Schule strenge Gedenkveranstaltungen für den Namensheiligen gehalten: im Gleichschritt, dazu patriotische Gesänge und natürlich im Fackelschein. Es war so eine stille Übereinkunft, dass man danach das Denkmal am besten nicht gekannt hätte. Genau das aber sorgte dafür, dass es nicht vergessen wurde – auch wenn längst Gras darüber wuchs.