Geschichte ist als „Geschehenes“ zwar immer zeitlich abgeschlossen, die Beschäftigung mit ihr ist es aber nicht. Es ist nie „alles gesagt“. Die vielfach beschworene „Vergangenheitsbewältigung“ kann nicht funktionieren, denn jede Zeit hat einen eigenen Blick auf die Vergangenheit. Geschichte wird benutzt zum Machterhalt, zur In-Frage-Stellung von Macht, sie wird wahrheitsgemäß dargestellt und befragt, sie wird totgeschwiegen, sie wird bewusst verfälscht. Ernsthafte Beschäftigung mit Vergangenem verlangt angesichts der Fülle der Ereignisse immer Auswahl. In diesem Prozess spielen Archive eine nicht zu unterschätzende Rolle, sehr große Einrichtungen wie Staats-, Landes-, Universitätsarchive sowie kleinere wie Kreis- und Stadtarchive. Zu den ganz kleinen Sammlungen dieser Art gehört in Grimma das „Archiv des Gymnasiums St. Augustin“, also ein Schularchiv, das – ausgehend von kleinen Anfängen – durch Kurt Schwabe wesentlich erweitert und von seinen Nachfolgern, Volker Beyrich und Martina Bloi, einstigen Schülern und Lehrern der Schule, erfolgreich fortgeführt wurde. Die besondere Bedeutung dieses Archivs resultiert aus der Tatsache, dass die Landesschule durch die Schulreform ab 1945 schrittweise beseitigt und in der Folge die Beschäftigung mit deren 400-jähriger Tradition abgebrochen wurde und faktisch verboten war. Anknüpfen an Verschüttetem und Wiedergutmachung waren nach 1989/90 erforderlich. Die in analogen und digitalen Katalogen erschlossenen Bestände harren nun der regen Benutzung durch möglichst viele Interessierte. Momentan überwiegen „auswärtige“ Anfragen (Familienforschung, Schulgeschichte…). Bei der Nutzung der Sammlungen durch Schüler und Lehrer der Schule gibt es – vorsichtig ausgedrückt – Reserven. Jedes Archiv lebt durch die dringend nötigen, möglichst ständigen Kontakte mit der Umwelt. Zu dieser Außenwirkung tragen die inhaltlich sehr anspruchsvollen, äußerlich bescheidenen „Archivstäubchen“ bei. Vorsichtig formulierten die Herausgeber dieser kleinen Heftchen im Jahr 2011: „Es sind ‚Stäubchen‘, Kleinigkeiten, die nicht den Anspruch erheben, Neues zu entdecken, die aber doch vielleicht des Lesens wert sind“. Die halbjährlich erscheinenden „Archivstäubchen“ sind mittlerweile erwachsen geworden und haben ihre aufmerksamen Leser vor allem unter den Mitgliedern des Augustinervereins, also all denen, die mit „ihrer Schule“ verbunden sind, unter Lehrern und einigen Schülern. Die Hefte werden digital und analog verbreitet. Interessenten können sich den regelmäßigen, kostenlosen Bezug sichern, indem sie sich im Archiv (Altes Seminar) melden. Inhaltlich gelingt es den Verfassern immer wieder, Details aus der Geschichte der Schule sowie schulgeschichtliche Zusammenhänge so anregend wie sinnvoll in Beziehung zur Gegenwart darzustellen. Zum Inhalt der bisher erschienenen 14 Hefte gehörten zum Beispiel: die Darstellung des Versuchs, aus dem Schulchor einen Chor zu entwickeln, der dem Niveau der Thomaner entsprechen sollte; die Vorstellung eines ehemaligen Schülers, der in Anwesenheit Napoleons experimentierte; eine Untersuchung, wie man im 16. Jahrhundert die klösterlichen Räume beleuchtete; Recherchen zur „verschwundenen“ Schulglocke; die Vorstellung des ehemaligen Lehrers Prof. Pelz (genannt „Pappus“); Ermittlungen zum Verhältnis Schüler – Alkohol; ein Überblick zum Schulleben im 30-jährigen Krieg; Gedanken eines ehemaligen Schülers und jetzigen Sängers zur Forderung, „halbnackt“ auf der Bühne zu erscheinen…
Seit einiger Zeit sind die „Stäubchen“ auch illustriert und sind längst ungleich mehr als „Stäubchen“, sondern angemessen-anregende Darstellungen aus der Geschichte dieser einzigartigen Einrichtung der Bildung und Erziehung. Den Verfassern, die sich bemühen, Lücken im historischen Wissen zu schließen, fehlt oft – wie vielen Gleichgesinnten – das Echo auf ihre Arbeit, sie benötigen nicht nur den Leser, sondern auch den Partner, der mit ihnen diskutiert und so hilft, die „Archivstäubchen“ noch lesenswerter zu machen.
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Grimmaer „Archivstäubchen“
Grimmaer „Archivstäubchen“
von Volker Beyrich
Meldung vom 20.07.2020