© Stadt GrimmaDreißig Jahre Wiedervereinigung zwischen DDR und BRD am 3. Oktober 2020 – ein Datum, an dem jeder von uns für sich persönlich Bilanz zieht, was das für ihn bedeutet und wie dies sein Leben verändert hat.
Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder von uns hierzu seine persönliche Perspektive mit der daraus resultierenden Bewertung hat. Zum einen die unter Dreißigjährigen, für die die Wiedervereinigung „irgendetwas mit dem 2. Weltkrieg“ ist und die die Frage nach einer persönlichen Bilanz gar nicht verstehen. Dann die mittlere Generation der 30-60jährigen, für die die Beantwortung nach einer persönlichen Bilanz sehr unterschiedlich ausfallen dürfte und die der über 60jährigen, für die die Wiedervereinigung einem Tsunami gleich das Leben komplett verändert hat.
Nähert man sich der Bewertung der Wiedervereinigung über statistische Zahlen, ist das Ergebnis eher ernüchternd. Die überwiegende Anzahl der Westdeutschen und eine noch größere Anzahl der Ostdeutschen ist der Meinung, dass die Wiedervereinigung noch nicht endgültig vollzogen ist. Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger der älteren Generation aus den neuen Bundesländern fühlen sich durch die oft sehr pauschale Kritik an der DDR um ihre Lebensleistung betrogen. Von diesen wird auch oft beklagt, dass manches Erhaltenswerte der ehemaligen DDR, wie die Polikliniken, die Ganztagsschulen bis hin zum Grünen Pfeil unnötigerweise erst zerstört und nunmehr neu erfunden wird.
Und dennoch, die friedliche Wende von 1989 und die sich daran anschließende Wiedervereinigung war ein Wunder, das viele noch im Oktober 1989 nicht einmal für möglich hielten. Und selbst heute in der Rückschau mit dem vielen Wissen, was damals gut oder auch schlecht gelaufen ist, wüsste sicher keiner von uns, wie man es hätte besser machen können. Es galt damals die historisch einmalige Chance und das sich ergebende knappe Zeitfenster für eine Wiedervereinigung zu nutzen.
Daher macht es sich zur objektiven Beurteilung der jetzigen Situation auch erforderlich, einen anderen Maßstab zu bemühen. Hätte denn die DDR überhaupt eine realistische Chance gehabt zu überleben? Was wäre wenn es die DDR jetzt noch gäbe? Wir alle gemeinsam, gerade hier in Ostdeutschland, sollten aufpassen, dass in einer überbordenden DDR-Nostalgie die Errungenschaften der letzten dreißig Jahre nicht untergehen. Auch die vielen Ideale, die die friedliche Revolution 1989 erst möglich machten, müssten für die Zukunft bewahrt bleiben.
Gerade die Veränderungen der Wende, die für die meisten von uns große Herausforderungen mit durchaus meist positivem Ausgang bedeuteten, sollten uns Mahnung und Anlass sein, uns auch jetzt aktiv in den Prozess der Veränderung, den unser gemeinsames Deutschland jetzt zwingend notwendig hat, mit einzubringen.
Unser derzeitiges Deutschland ist in vielen Bereichen zwingend reformbedürftig, was nicht zuletzt aufgrund der vielen Geschehnisse und Demonstrationen der letzten Wochen offenbar wird. Die politische Komplexität überfordert dabei nicht nur den einfachen Bürger, sondern auch die politisch Verantwortlichen, die oft schon nicht mehr die Fragen des einfachen Bürgers verstehen. Vergleicht man die Situation 1989 und die jetzige mit ihren Corona-Demonstrationen und immer extremer werdenden Parteien, fällt auf, dass es ein zunehmendes Misstrauen der breiten Bevölkerung gegen „die da oben“ gibt. Der Staat wird nicht als Partner, sondern als Instrument der Herrschenden empfunden. Das muss anders werden. Das Positive und der Nutzen einer staatlichen Gemeinschaft für jeden von uns muss wieder mehr ins Bewusstsein rücken.
Momentan leben wir alle noch in einer Epoche des Wohlstandes. Dennoch gilt auch hier und jetzt, was Giuseppe Tomasi di Lampedusa bereits vor 100 Jahren sagte: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, müssen wir alles ändern.“
Wir sollten deshalb gemeinsam den Geist der Friedlichen Revolution von 1989 und die Wiedervereinigung mit ihren Veränderungen als positives Beispiel begreifen, wie man sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen kann und uns aktiv in die anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen mit einbringen.
Deshalb kommt es nicht auf Ost-West oder Nord-Süd oder Oben-Unten an, sondern es ist unser Deutschland, unser Europa, unsere Welt, für deren Erhalt wir uns zwingend gemeinsam
einsetzen müssen.
Ihr Oberbürgermeister
Matthias Berger